Glocken zu Geschützen -
Geschütze zu Glocken
Vor 100 Jahren: Die Gemeinde feierte die Weihe der neuen Marienglocken
„Der lange Ernst“: So hieß der Marienkirchturm im Mindener Sprachgebrauch vor 100 Jahren. Namensgeber für den Turm war der damalige, überdurchschnittlich hoch gewachsene Marienpfarrer und spätere Superintendent Ernst Graeve, der mit seiner Familie im Pfarrhaus neben der Kirche wohnte. Auch seine Frau und seine Kinder waren von gleicher Statur. „Burg der Riesen“ war deshalb das Pseudonym für das Pfarrhaus.
Zu Beginn des Jahres 1917, im vierten Jahr des 1. Weltkrieges, bekam die Mariengemeinde wie alle anderen Kirchengemeinden in Deutschland Post aus Berlin. Von staatlicher Seite wurden alle Gemeinden angewiesen, ihre Glocken aus den Kirchtürmen zu holen und abzugeben. Sie sollten als Materialreserve zur Geschützherstellung eingezogen werden. Nur kunstgeschichtlich besonders wertvolle Glocken wurden verschont. Es muss damals für die Menschen in St. Marien ein beklemmendes Gefühl gewesen sein. Immerhin begleiteten die Glocken den Alltag vieler Menschen. Zu freudigen Anlässen aber auch zu Trauerfeiern wiesen sie die Menschen in Hörweite auf wichtige Ereignisse hin. Weihnachten ohne Glocken war genauso schlecht vorstellbar wie der Ostermorgen ohne Geläut. Denn nur am Karfreitag nach der Sterbestunde schwiegen sie. Sollte nun über Jahre Karfreitag sein?
Einige Pfarrer in Deutschland wiesen auf den Unsinn der Umschmelzung von Glocken in Geschütze hin. Instrumente, die das Leben der Menschen begleiten sollten, konnten unmöglich zur Menschenvernichtung umgeschmolzen und in die Materialschlachten an der deutsch-französischen Grenze geschickt werden. Auch Ernst Graeve mag sich für den Erhalt der Marienglocken eingesetzt haben. Doch nach sechs Monaten war es so weit: Im Gottesdienst am Sonntag, den 2. Juli 1917 nahm die Kirchengemeinde Abschied von den Marienglocken. Aenne Graeve, eine der Töchter vom „langen Ernst“ schilderte in einem Brief an ihren Verlobten Martin Lohmann, der vorher als Soldat eingezogen worden war, diesen Gottesdienst:
„Um 10 Uhr waren wir alle zusammen in der Kirche, auch die Kleinen mussten dabei sein, um die Glockenabschiedsfeier mitzuerleben, die Vater hielt. Es war ergreifend schön und ernst. Die Kirche war sehr voll. Vater erzählte allerlei Interessantes von der Geschichte der Marienglocken und dem Turm… Bei der Schlussliturgie fingen alle Glocken an zu läuten und läuteten bis 12.00 Uhr. Es ist seltsam, man meinte, sie wüssten, dass es zum letzten Mal sei und warum sie herunter müssten. Und wie man jedem Einzelnen die tiefe Bewegung und Wehmut anmerkte! Unsere lieben treuen Marienglocken werden mir und vielen fehlen.“
Fünf Jahre dauerte das Karfreitagsschweigen an St. Marien. In der Zwischenzeit war der erste Weltkrieg zu Ende gegangen. Hunderttausende hatten ihr Leben lassen müssen. Die Entbehrungen der Nachkriegswinter hatten die überlebende Bevölkerung hart gezeichnet. Der Kaiser hatte abgedankt, die Weimarer Republik ihre Arbeit aufgenommen. Der lange Ernst war immer noch Marienpfarrer. Martin Lohmann war aus dem Krieg mit einer schweren Beinverletzung heimgekehrt und hatte im August 1918 die Graeve-Tochter Aenne geheiratet.
Im Juli 1922 hatte auch das Glockenschweigen in St. Marien ein Ende. Die Bochumer Stahlhütte hatte aus Kriegsschrott für die Marienkirche drei Glocken gegossen. Kriegsmetall, das für vielfachen Tod gesorgt hatte, wurde in eine friedliche Nutzung zurückgeführt. Zur Glockenweihe im Gottesdienst am Sonntag, den 2. Juli 1922 sang der Kirchenchor:
„Sprich, wie kannst du klagen, wie kannst du dich freuen? Bist ein tot Metall.
Aber unsre Leiden, aber unsre Freuden, die verstehst du all.“
Unter großer Beteiligung der Gemeinde wurden die drei Glocken, gestimmt in den Tönen ais, cis und e und insgesamt 6,5 Tonnen schwer, in die Glockenetage des Turmes hochgezogen, dort in die Lager gehängt und in den Dienst genommen. Heute, 100 Jahre später, begleiten sie den Tages- und Wochenablauf, die kirchlichen Feiern nach wie vor mit ihrem Klang. An jedem Mittag um 12.00 Uhr, während des Friedensgeläutes, geben sie ein unüberhörbares Zeichen, den Frieden in der Stadt und im Land zu bewahren. Der Turm ist inzwischen sanierungsbedürftig geworden. An den Glocken scheint der Zahn der Zeit vergeblich zu nagen. Sie klingen wie vor 100 Jahren und sind in dieser Zeit zu einer akustischen Landmarke geworden, zu einem Stück hörbares Minden.
Frieder Küppers