Kind unterm Korb

Tragik und Rettung der Hannelore Imort am 6.November 1944

Auf dem Foto lächelt eine junge Frau in die Kamera. Ihre blonden Haare sind gepflegt frisiert. Rechts neben ihr sitzt ihre Tochter, Brille auf der Nase, Schleifenim Haar. Rechts von den beiden ist mit Kurzhaarschnitt und in Anzug und Krawatte der Vater zu sehen. Er blickt ernst zur Seite –so als wenn ihn wenig mit seiner Frau und seiner Tochter verbinden würde.

Dieses Bild ist das einzige Familienfoto, das Hannelore Imort von ihrer Mutter und ihrer Schwester besitzt. Sonst hat sie keine Erinnerung, denn sie war erst zwei Jahre alt, als sie am 6. November 1944 für immer von Mutter und Schwester getrennt wurde.

Damals war das Marienstift ein Wohnhaus, in dem mehrere Familien wohnten. Im Südflügel wohnte u.a. der Küster Kuhlmann mit seiner Familie. Im Westflügel Wilhelm Slotalla mit seiner Frau Frieda und den beiden Töchtern Gerda und Hannelore. Gerda war kurz vorher 13 Jahre alt geworden. Mit den Kindern auf dem Kirchplatz war sie befreundet. Hannelore war zwei Jahre altund wurde von den Kindern aus der Nachbarschaft gern im Kinderwagen über den Platz geschoben.

Als am 6. November 1944 morgens die Sirenen heulten, begann die Routine, die allen bekannt war und sichbei den vorangegangenen Fliegerangriffen bewährt hatte: Letzte Habseligkeiten packen und dann die Treppe hinab in den Luftschutzkeller. So hatte es auch Frau Slotalla mit den beiden Töchtern bis in den Keller geschafft, als die Bombentreffer näherkamen. Ihr Mann arbeitete seit dem frühen Morgen als Polsterer in einem Zulieferbetrieb für Flugzeugherstellungbei der FirmaPeschkein Minderheide.Einen Korb mit Wäsche hatteFrau Slotallaaus der Wohnung retten wollenund in den Keller mitgebrach.

Wenig später detonierte eine Bombe über dem Luftschutzkeller des Westflügelsund legte diesen damals 950 Jahre alten Teil des ehemaligen Klosters in Schutt und Asche. Durch denLuftdruckdieser Detonation wurde im Keller alles durcheinander geworfen. Der Korb fiel um und begrub die zweijährige Hannelore unter sich. Aus diesem Grund überlebte Hannelore als einzige in diesem Luftschutzraum. Herabfallende Steine und gebrochene Balken wurden vom Korb abgefangen. So konnte Hannelore am Abend des 6.Novembervon Helfern lebend geborgen werden. Ihre Mutter und ihre Schwester Gerda waren wie alle anderen aus diesem Schutzraum ums Leben gekommen.

Hannelore wuchs auf bei ihrer Tante in einem Haus in Dankersenauf. Sie heiratete 1961, bekam einen Sohn und freut sich heute über eine Enkeltochter. Evangelische Frauenhilfe in Dankersen, Selbsthilfevereine und andere Organisationen profitierten von ihrem außergewöhnlichen Aktionswillen. Aber immer wieder meldeten sich bei ihr die Fragen nach den Hintergründen dieser Tragödie. „Warum bin ich als einzige am Leben geblieben?“ Es dauerte Jahrzehnte, bis sich Hannelore Imort diesen Fragen stellen konnte, auf die keine eindeutige Antworten zu finden sind. „Gott wird sich etwas dabei gedacht haben, dass ich überleben durfte“, sagt sie heute. „Er wollte mich retten, damit ichfürandereda sein konnte.

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