Wenn morgens um Sieben die Marienglocken läuten…

1940er Jahre: Erinnerungen an eine Kindheit unter dem Kirchturm

Da ich ganz in der Nähe der Marienkirche aufgewachsen bin, war der hohe Turm für mich als Kind eine feste Größe für mein Heimatgefühl. Die Glocken waren besonders wichtig: Wenn sie morgens um Sieben läuteten, durfte ich solange noch im Bett bleiben – kostbare Minuten! Dann schaffte ich es immer noch, pünktlich in die Schule zu kommen. Sehr wichtig war das Läuten abends um Sechs – dann musste ich vom Spielen nach Hause kommen oder aus dem Garten ins Haus (die Freundinnen mussten natürlich auch nach Hause) und ich bekam mein Abendessen - als kleines Kind den obligatorischen Grießbrei, an den ich mich noch gut erinnern kann.

Wenn es sonntags um zehn Uhr zum Gottesdienst läutete, guckte ich aus dem Fenster, ob viele Menschen – die meisten in Schwarz – zur Kirche gingen. Um 20 nach elf läutete nur eine Glocke zum Kindergottesdienst. Dann mussten wir damals sehr vielen Kinder uns auf dem Kirchplatz versammeln, ehe alle gemeinsam in die Kirche einziehen durften.

Besonders schön fand ich immer das Läuten am 1. Weihnachtstag morgens um sechs Uhr zur Christmette. Dann wurde ich ein bisschen wach und wusste: Es ist Weihnachtsmorgen – ich drehte mich behaglich im Bett um und schlief noch lange weiter mit der Vorfreude auf meinen Geschenktisch, der auf mich warten würde. Große Freude hatte ich jedes Jahr, wenn am Erntedank- und am Reformationsfest die Kirchenfahne oben am Turm wehte: Sie war schmal und weiß mit einem langen violetten Kreuz darauf. Ich freute mich vor allem auf die Lieder: „Wir pflügen und wir streuen“ und „Ein feste Burg ist unser Gott“, die ich sehr mochte.

Einmal, als ich acht Jahre war, bekam ich die Erlaubnis, bei meiner Freundin zu übernachten, was ein großes Ereignis für mich war. Ich schleppte also Bettdecke und Kissen bis zum Kirchplatz. Nun war es aber ein sehr warmer und schwüler Sommerabend mit dunklen Wolken am Himmel. Wir konnten gar nicht einschlafen, liefen immer wieder im Nachthemd auf den kleinen Balkon, um zu gucken, ob das Gewitter wohl näherkam. Man hörte es schon in der Ferne grummeln und es dauerte nicht lange, bis es über Minden war.

Wir waren voller Spannung, als plötzlich ein furchtbarer Schlag zu hören war unmittelbar nach einem grellen Blitz: Da erschien der Vater meiner Freundin und sagte ganz ruhig: Es hat mal wieder in den Turm eingeschlagen. Und da die elektrische Leitung des Hauses mit der des Turms verbunden war, war alles stockdunkel, eine Kerze wurde angezündet, und wir fanden das alles natürlich so aufregend, dass wir zur Beruhigung in die Betten der Eltern kommen durften.

Sehr beliebt waren auch die Kindergeburtstage bei dieser Freundin; denn als Höhepunkt ging der Vater mit uns kleinen Mädchen immer auf den Turm. Spannend war die enge Wendeltreppe; dann konnte man links die Gewölbe wie große graue Hügel von oben sehen, was mich ganz besonders begeisterte. Nur leider war die Aussicht oben nur schwer zu erreichen - wir mussten hochgehoben werden, um überhaupt etwas zu sehen. Aber ein tolles Gefühl war es doch, so hoch über der Stadt zu stehen!

So war der Marienkirchturm in seiner strengen Größe etwas ganz Wichtiges in unserem Kinderleben: Orientierung durch Uhr und Glocken, auch durch die Wetterfahne, die die Windrichtung anzeigte. Aber er war auch ein Zeichen für Beständigkeit, stand schon Jahrhunderte so da und hatte nicht nur dem Blitz standgehalten, sondern auch unbeschadet die Bomben des Weltkrieges überstanden.

Gisela Hirschberg-Köhler

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